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Interview Reihe "Atem"

Ein Atem - verschiedene Schulen

Atemtherapie nach Prof. Ilse MIDDENDORF

Interview mit Susanne Wagner, Atemtherapeutin nach Prof. Ilse Middendorf

 

Es gibt in der Schweiz verschiedene Atemtherapie Richtungen, welche sich jeweils in ihren therapeutischen Ansätzen und Schwerpunkten unterscheiden. Allen gemeinsam ist jedoch die körperorientierte Arbeit am Atem.

 

Als Ganzheitlich-Integrative Atemtherapeutin IKP bin ich neugierig, was die einzelnen Atemtherapie Schulen voneinander unterscheiden. Aus diesem Grund habe ich eine Interview Reihe entwickelt, um diese Unterschiede auch Laien zugänglich zu machen.

 

Folgende Atemschulen sind unter dem Dach des Atemfachverbandes Schweiz AFS miteinander verbunden:

 

Atemrichtung Prof. Ilse Middendorf

Atemrichtung Ganzheitlich-Integrative Atemtherapie IKP

Atemrichtung PsychoDynamische Körper- und Atemtherapie LIKA

Atemrichtung Atem- und Körpertherapie Zfakt

Atemrichtung Atemtherapie nach logopsychosomatischer Grundlage ATLPS

Atemrichtung Organisch-Rhythmische Bewegungsbildung ORB

Atemrichtung Integrale Atem- und Bewegungsschulung Methode Klara Wolf IAB


Susanne Wagner, Atemtherapeutin Middendorf, Niederhasle
Susanne Wagner, Atemtherapeutin Middendorf, Niederhasle

 

Als Erste in dieser Reihe habe ich Susanne Wagner über ihre Atemtherapie-Richtung ausgefragt.

 

Susanne Wagner ist KomplementärTherapeutin mit eidg. Diplom Methode Atemtherapie nach Middendorf, Linguistin und Erwachsenenbildnerin. Sie studierte an der Universität Zürich Sprachen, im Nachdiplom an der Universität Basel Papierkuratorin sowie an der ZHAW Winterthur Kulturmanagement.

 

Seit über 20 Jahren arbeitet sie Teilzeit als Übertragungsspezialistin bei der SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte und baute sich mit 40+ ein zweites Standbein als Atemtherapeutin und Erwachsenenbildnerin auf. Damit verfolgt sie als Schreibtisch-Profi für hochkonzentrierte Bildschirmarbeit ihre "Pausen sind wichtig"-Mission.

 

Ausserdem bloggt sie über Atemgesundheit und das Pausenmachen, liebt Esel und Alphorn und engagiert sich im Vorstand des AFS Atemfachverband Schweiz für die Atemtherapie in der Schweiz. Seit 2019 arbeitet sie in eigener Praxis im Zürcher Unterland in Niederhasli und unterrichtet am Ateminstitut Schweiz in Bern.

 


Liebe Susanne. Wie bist du zur Atemtherapie gekommen? Warum hast du deinen angestammten Beruf (teilweise) aufgegeben und dich zur Atemtherapeutin ausbilden lassen?

Nach meinem Sprachenstudium vor rund 20 Jahren begann ich als Übertragungsspezialistin Blindenschrift bei der SBS Schweizerische Bibliothek für Blinde, Seh- und Lesebehinderte zu arbeiten. Das war mein absoluter Traumjob damals! Diese Arbeit fordert ein hohes Konzentrationsvermögen, Ausdauer vor dem Bildschirm und viel Liebe und Geduld im Umsetzen der Braillesystematiken.

 

Mit den Jahren erlebte ich immer deutlicher, was Tastatur- und Bildschirmarbeit und das „im Büro eingesperrt sein“ mir körperlich und seelisch abverlangten. Ich bekam Gelenkschmerzen und war dauerschlechtgelaunt, weil es mir nicht gelang, zum Berufsalltag - trotz viel Musik, Bewegung, Hobbies und Weiterbildungen - einen genügend wirksamen Ausgleich zu finden.

 

Ich kam an den Punkt, wo ich mich fragte: „Noch 25 Jahre bis zur Pensionierung so weitermachen?“ Das wollte ich weder meiner Gesundheit noch meiner Lebenszufriedenheit antun. Sobald mir das klar war, suchte ich nach Möglichkeiten, mir ein zweites, ausgleichendes, komplett anderes Standbein aufzubauen und landete bei der Atemtherapie und der Erwachsenenbildung.

Warum hast du dich für die Atemtherapie Ausbildung nach Middendorf entschieden?

Atemhaus Wagner, www.atemsinn.ch
Atemhaus Wagner, www.atemsinn.ch

 

Da hörte ich auf meine Intuition. Es war keine „Entscheidung“. Es war mir einfach klar: Das ist mein (Atem)-Weg. Nach einer ersten Internetrecherche - die Story dazu gibt‘s auf meiner Über mich-Seite - nahm ich in Männedorf am Atem-Kurs „Die Stille hinter der Stille“ von Ursula Schwendimann teil. Ich tauchte sofort ab in die Welt der Körperempfindung. Beim Entdecken meiner Atembewegung und der Atembewegungsräume war ich überglücklich, sozusagen „geflasht“. 

 

Leider bot Ursula Schwendimann zu diesem Zeitpunkt an der Atemschule in Männedorf keine Therapeutenausbildung mehr an. So schnupperte ich bei verschiedenen Schweizer Anbietern und mein Herz zog mich nach Bern ans Ateminstitut Schweiz zu Agathe Löliger Ursenbacher.

Was zeichnet für dich die Atemarbeit nach Middendorf aus? Wie erklärst du Laien, was Atemtherapie nach Middendorf ist?

Dies vorweg: Erklären reicht nicht - es geht um das Erfahren. Also: Selbst erleben durch ausprobieren und dann austauschen, reflektieren… Auch ich bin jeden Tag unterwegs zu (m)einem Verständnis davon, „was Middendorf ist“. Manchmal glaube ich, einen Zipfel davon erwischt zu haben, in meiner eigenen Erfahrung oder im Weitergeben. Manchmal stehe ich wie der Esel vor dem Berg und weiss es nicht. Allerdings weiss ich: Je mehr ich mich mit dem Atem beschäftige, auseinandersetze und auslote, was die Atemarbeit nach Middendorf bedeutet, umso vielfältiger werden die Antworten.

 

Das "direkte Atemgespräch" findet über Berührungen auf der Liege statt.
Das "direkte Atemgespräch" findet über Berührungen auf der Liege statt.

Damit ich mich nicht im Hinterfragen verliere, gehe ich gerne zu den Grundlagen. Das sind für mich die "3 Arten des Atmens"der "Atemschlüssel" und die "Atem(bewegungs)räume". Auch die "Atemformel" finde ich praktisch. Ebenso das „körpergerechte Sitzen, Stehen und Liegen“ und exemplarisch zB die "Kosmische Übung" in Kombination mit der Fingerkuppenarbeit.

 

Wer sich einlesen will, ist mit den Büchern von Ilse Middendorf gut bedient. Aber besser als Lesen ist Erleben und Austauschen!

 

Charakteristisch für die Atemtherapie nach Middendorf ist zudem das sogenannte "Atemgespräch". Das "direkte Atemgespräch" bezeichnet das Berühren mit den Händen in der Behandlung v.a. auf der Liege. Das "indirekte Atemgespräch" meint die Anleitung von Übungen durch die Therapeutin.

 

Die Atemarbeit nach Middendorf schätze ich, weil es um das Geschehenlassen geht und es eben eine Methode ist und keine Technik. Sie stellt das eigene Erleben und die Vielfalt der unterschiedlichen Wahrnehmungen in den Vordergrund. Gleichzeitig kommt sie ganz konkret rund praktisch daher. Man kann sie immer und überall anwenden. In jeder Lebenslage und individuell auf jeden anpassen. In einer einzigen Übung kann beispielsweise alles enthalten sein (zB in der "Kosmischen Übung"), was der Mensch braucht, um zu seinen Ressourcen zu finden.

 

Ausserdem mag ich an dieser Art der Atemarbeit, dass sie - mit ihrer Verwurzelung im Daoismus und dem Gedankengut von C.G. Jung - im "Atemschlüssel" und der "Atemformel" alles, worum es geht, auf den Punkt bringt: Die natürlichen Gesetzmässigkeiten des Atems und ihrer Anwendung. So viel ist in ihr enthalten, was in den letzten Jahren einen Hype erfahren hat. Bei Middendorf ist es unspektakulär verlässlich da, auch wenn nicht in den SEO-starken Worten beschrieben, wie Achtsamkeit, Faszien, Ganzheitlichkeit, Resilienz oder Herzkohärenz.

Wie können Menschen herausfinden, welche Atemschule am besten zu ihnen und ihren individuellen Bedürfnissen und Lebensumständen passt?

Ich bin überzeugt, das eigene Erleben gibt auf diese Fragen sofort eine Antwort. Also herausfinden via ausprobieren. Nicht nur die richtungsspezifische Orientierung spielt eine Rolle, sondern auch der Ort, wo das Angebot stattfinden kann, das Umfeld und natürlich die Person, die behandelt oder anleitet.

 

Mein Tipp: Angebote online recherchieren. Kurse besuchen und Erfahrungen sammeln. Menschen ausfragen und den Austausch suchen.

 

Gut ausgebildete Therapeutinnen und Therapeuten sind zB beim EMR gelistet oder auf der Seite des AFS Atemfachverband Schweiz via Therapeutenfinder für den eigenen Wohnort ganz einfach ausfindig zu machen.

 

Mein 2. Tipp: Herumfragen und persönliche Empfehlungen einholen.

Atemschlüssel nach Prof. Ilse Middendorf
Atemschlüssel nach Prof. Ilse Middendorf

Wie siehst du die zukünftige Entwicklung der Atemtherapie allgemein und insbesondere der Atemtherapie nach Middendorf?

Was ich besonders schätze an der Atemtherapie nach Middendorf ist, dass es um das WIE geht und weniger um das DRUMHERUM. Es ist alles da. Einfach und klar. Wir müssen lernen, es zu bemerken, wertzuschätzen und zu „nutzen“. Das „Nutzen“ besteht womöglich darin, etwas geschehen oder wirken zu lassen, etwas (den Atem) nicht zu stören oder nicht zu dirigieren, sondern im Vertrauen „machen zu lassen“. Haltungen, die ich als studierte Sinologin aus den Texten des Daoismus kenne, wie das „Wu Wei“ („nicht-handeln“) oder der Nutzen der Zwischenräume, also das, was materialisiert gar nicht da ist, jedoch den eigentlichen Wert ausmacht. Zum Beispiel eine Schale erhält ihre Qualität durch den Hohlraum, in dem sie Wasser aufnehmen kann.

Atemsinn als Lebenssinn
Atemsinn als Lebenssinn

 

Das „Geschehenlassen“ haben wir wohl verlernt, weil der Mensch der Moderne meint, alles im Griff und unter seiner Kontrolle zu haben und haben zu müssen. Auch das Leben. Auch den Atem. Ich wünsche mir ein kollektives Bewusstsein, das sich genau davon verabschiedet. Dieses Bewusstsein ist ein Lebenssinn, der alle anderen Sinne heranzieht und damit Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit im Leben für jeden Einzelnen fördert und fordert. Ich nenne diese Art von Lebenssinn „Atemsinn“. Er sorgt dafür, dass es gelingt und dass ein Kohärenzgefühl - ein Zusammengehörigkeitsgefühl - entsteht, weil es passt und alles zusammenfindet. Ich bin sicher, jeder Mensch hat das schon erlebt. Ich finde dazu am einfachsten Zugang in der Natur und im „Sein im Universum“.

Mit den Pandemiejahren hat das Bewusstsein der Öffentlichkeit in Bezug auf die Wichtigkeit des Atems notgedrungen zugenommen: Der Atem als Lebenshauch, ohne den eben nichts mehr geht. Das ist die brutale Realität und viele Menschen haben das schmerzhaft erfahren müssen. Zudem sind immer mehr Menschen von Atemwegserkrankungen, wie Asthma, COPD usw betroffen, gerade weil unsere Luft und Umwelt je länger desto verschmutzter ist. Dank Social Media und Internet ist die Bedeutung des Atems für den Menschen heute schnell für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich, insbesondere das Potenzial für die Gesundheit. Die Atemarbeit kann speziell das Nervensystem positiv beeinflussen und man kann sie bei Ängsten oder zur Stressbewältigung einsetzen. Da sehe ich unsere Zukunft!

"Atemarbeit beeinflusst das Nervensystem" Zitat Susanne
"Atemarbeit beeinflusst das Nervensystem" Zitat Susanne

Für mich stellt sich dabei die Frage, wie es gelingt, mit unserer Therapieform im Alltag dieser Menschen anzukommen. Damit könnte nämlich jeder und jede für sich die eigene Balance wiederherstellen und pflegen. Das wäre längerfristig „nachhaltig“ gesund und auch die Misere der explodierenden Gesundheitskosten könnten dadurch eingedämmt werden. Man stelle sich vor: Es würden einfach alle Menschen nur noch durch die Nase einatmen…

"Man stelle sich vor: Alle atmen durch die Nase" Zitat Susanne
"Man stelle sich vor: Alle atmen durch die Nase" Zitat Susanne

Gerade die Atemtherapie nach Middendorf vermittelt ganz konkret und handfest, wie das Atembewusstsein geweckt und geschult wird. Die Selbstwahrnehmung und Körperempfindung sind die Grundlage dafür. Vieles im Alltag lenkt uns von der Eigenwahrnehmung weg bzw es ist nötig, diese auszuschalten, um überhaupt funktionieren zu können - Bildschirmarbeit, ständiges Berieseltwerden, zu wenig Erholung und Ruhe. Die Atemtherapie nach Middendorf gibt dem interessierten Menschen Werkzeuge in die Hand, die er oder sie bewusst nutzen kann für Wohlbefinden und Zufriedenheit. Ein „Werkzeug“ zu verwenden, bedeutet bei dieser Arbeit aber eben nicht, stumpfsinnig eine Technik anzuwenden, sondern schult die Aufmerksamkeit und die Orientierung am eigenen Rhythmus, Tempo und Mass.

 

Zuerst geht es darum, überhaupt zu bemerken, wann zB der Atem stockt, und das ins Bewusstsein zu holen. Dann kann ich entscheiden, damit zu arbeiten, weil ich weiss, was der natürlich gesunde Atem für mich tun kann, wenn ich ihn zulasse. Das ist auch wieder mehr nichts tun als Aktionismus. Auf diese Weise kann ich meinen ureigenen Atem Wiederentdeckung und mir zur Verfügung stellen, was ich gerade brauche: Ruhe oder Anregung. Hinwendung zu mir.

 

Da kommt mir das Buch von Georg Milzner in den Sinn: „Wir sind überall, nur nicht bei uns. Leben im Zeitalter des Selbstverlusts“. Das war das erste Buch in einer langen Reihe, welches ich seit 2017 zum Thema Kontakt zu sich, Ablenkung und Aufmerksamkeit gelesen habe, weil mich das Thema „Pause“ gepackt hat.

Gibt es wissenschaftliche Studien oder Forschungsergebnisse, welche die Wirksamkeit deiner spezifischen Atemschule unterstützen?

Die Atemtherapie ist seit Jahrhunderten eine bewährte Methode und ein weit verbreitetes Heilverfahren, zB bei „Naturvölkern“. Mit der Yogabewegung sind unzählige Atemtechniken nach Europa herübergeschwommen. Jeden Tag lesen wir on- und offline von bahnbrechenden Entdeckungen, was der Atem alles zu leisten vermag. Da bin ich oft auch ein wenig skeptisch, denn ich finde, mit dem Atem lässt sich meiner Ansicht nach nicht spassen - auch wenn er durchaus Humor zeigen kann. Schliesslich ist der Atem unser Lebenshauch und kein Zirkuspferd!

 

Eine Auswahl von Studien, die sich mit der Wirksamkeit befassen und diese - pauschal gesagt - auch bestätigen, gibt es auf der Seite des AFS Atemfachverband Schweiz und beim deutschen Berufsverband der Atemtherapeuten, dem BV-ATEM.

 

Spezifisch zu Middendorf empfehle ich:

 

  • Stutz R., Schreiber D., 2017, „Die therapeutische Wirksamkeit westlicher Atemtherapiemethoden. Ein systematischer Review von Complementary Medicine Research. Darin werden 23 Studien zur Atemtherapie nach Middendorf klassifiziert und miteinbeziehen. Die Studie kann auf der Seite des AFS heruntergeladen werden.
  • Meier S., 2002, Dissertation „Atemtherapie nach I. Middendorf in der Schweiz. Eine wissenschaftliche Bestandesaufnahme aus Patientensicht“. Da finde ich v.a. auch die Inhalte zur „Methodenkritik“ spannend, also womit hatten die KlientInnen Mühe bezüglich der angewendeten Methode.
  • Höller-Zangenfeind M., 2007, „Forschungsarbeit in Japan“. In: Stimme von Fuss bis Kopf, S. 186-190. Das Kapitel beschreibt auszugsweise, wie die Wärmeausbreitung und Schwingungsphänomene im Körper erforscht wurde.

In welchen Situationen oder Gesundheitszuständen kann die Atemtherapie nach Ilse Middendorf besonders effektiv sein?

Der Atem ist als grundlegende Lebensfunktion mit den gesamten Abläufen im menschlichen Organismus verbunden und notwendig. Deshalb ist die eine Antwort: Immer und überall! Wenn man nicht weiss, wo anfangen, ist Atemtherapie sicher eine gute Möglichkeit.

Das möchte ich an drei ausgewählten Bereichen verdeutlichen:

Tiefe Erholung durch Atemtherapie bei Stress
Tiefe Erholung durch Atemtherapie bei Stress

 

  1. Bei Verspannung und Schmerzen: Atemarbeit fördert das natürliche Spannen und Lösen - nicht nur des Zwerchfells - sondern auch zB beim Dehnen und Bewegen. Körpergerüche werden wieder durchblutet und mit Nährstoffen versorgt, verklebte Strukturen können sich regenerieren und angespannte Körperbereiche, die komplett aus dem Bewusstsein entschwunden sind, werden durch neue Erfahrungen wieder zugänglich (zB verspannter Nacken).

  2. Bei unspezifischen Stresssymptomen: Wenn im System die Ruhe fehlt und das „Zur Ruhe kommen“ nicht mehr funktioniert, kann Atemtherapie nach Middendorf tiefe Erholung anbieten. „Passiv“ mit Behandlungen auf der Liege und „aktiv“ im angeleiteten und selbständigen Üben.

  3. Bei Atembeschwerden: Das liegt wahrscheinlich auf der Hand… Wenn es Probleme mit dem Atmen gibt, kann die Atemtherapie nach Middendorf natürlich hilfreich sein. Häufig sind Atembeschwerden auch das Resultat von 1. und 2. bzw. von Ängsten.

Auch bei stressbedingten Verdauungsbeschwerden oder Schlafproblemen kann die Atemtherapie einen wertvollen Beitrag zu mehr Wohlbefinden leisten.

 

Je nachdem, welches Fachwissen und Erfahrungen eine Therapeutin oder ein Therapeut mitbringt, ergeben sich zudem weitere spannende Berufsfelder, in welcher die Atemtherapie eingesetzt werden kann, wie zB Gesang, Logopädie, Blasinstrumente.

Kannst du mir einen Einblick in die Atemtherapie nach Ilse Middendorf geben? Vielleicht anhand eines Beispiels.

Wenn jemand zu mir in die Praxis kommt, für den oder die das alles komplett neu ist, beginne ich damit, dass ich von den drei Arten des Atmens erzähle. Das ist für mich ein Zugang zur Grundlage der Arbeit nach Ilse Middendorf und gleichzeitig kann ich damit vermitteln, wie ich als Atemtherapeutin arbeite bzw. was die Person bei mir erwarten kann.

 

Drei Arten zu Atmen
Drei Arten zu Atmen

Ilse Middendorf sagt in ihrer Atemlehre: 

„Es gibt drei Arten zu atmen. 
Die unbewusste Atemfunktion. 
Der vom Willen gesteuerte Atem. 
Und als drittes: den Atem, wie er von Natur aus ist, wenn wir ihn nicht bei seiner Arbeit stören. 
Ihn können wir beobachten.“
Und das ist das, was wir mit der Atemarbeit tun. Das ist vielleicht nicht so einfach am Anfang und ich schaue mit der Klientin, dem Klienten, welche Zugänge vorhanden sind und wie sie sich anbieten.

 

Daraus ergibt sich meistens schon ein erstes Gespräch. Meine Klientin erzählt von einer Begebenheit oder stellt eine Frage - und wir sind mitten in der Arbeit angekommen. Ich leite dann eine grundlegende Übung an: „Atembewegung spüren“. Mit dieser Übung kann ich gut erklären, wie die Atmung überhaupt funktioniert, welche Rolle das Zwerchfell dabei spielt und wir üben das Wahrnehmen und wertfreie Beobachten auf dem Hocker aus dem „körpergerechten Sitz“ heraus.
Auf diese Weise erarbeiten wir, wie sich die Körperempfindung im Moment zeigt und wie sie integriert und formuliert wird von dem Menschen, der mir gegenüber sitzt. Es entsteht sofort eine Stille, eine Hinwendung zu sich, die Raum schafft, der im Alltag oft fehlt und den viele Menschen echt vermissen, weil sie nicht mehr "runterkommen" können.
Der Klient, die Klientin ist aufgrund eines bestimmten Anliegens bei mir gelandet - daran arbeiten wir dann weiter. Zusammengefasst sage ich also über meine Middendorf-Arbeit:
  • Jeder Mensch ist einzigartig. Wir gestalten aus dem Moment und aufgrund des individuellen Anliegens, innerhalb der Möglichkeiten der Beteiligten.
  • Der Mensch ist jederzeit beteiligt im Prozess und wirklich gemeint. Es gibt bei mir (und ich finde grundsätzlich in der Atemtherapie) keine "Konsum-Therapie". 
  • Die Frage, was nun "Middendorf" genau ist, wird immer wieder gestellt. Ich bin überzeugt: Die Antwort ist immer wieder neu und für jeden Menschen anders. Genau das ist Middendorf und darf es sein. Das sehe ich als Chance in der Vielfalt - nicht als wischiwaschi, denn als Methode erlebe ich "Middendorf" sehr konkret, auf den Punkt und klar.
In Meiers Dissertation "Atemtherapie nach I. Middendorf in der Schweiz" heisst es übrigens bei der Liste von Kritikpunkten an der Methode selbst, dass der Therapeut nicht sagt, wie geatmet werden soll (S. 75). Das trifft voll ins Schwarze: Darum geht es - nicht, WIE geatmet werden SOLL, sondern WIE ES ATMET und was das für den jeweiligen Menschen bedeutet.
"Wie es atmet - darum geht es" Zitat Susanne
"Wie es atmet - darum geht es" Zitat Susanne

Jeder und jede Middendorf TherapeutIn, die/der das liest, würde diese Fragen sicher ganz anders beantworten und vielleicht doch gleich. Es fallen mir noch 1000 Sachen ein, die ich gar noch nicht erwähnt habe...

 

Ich bin sehr gespannt und bitte die LeserInnen - wenn du als Middendorf TherapeutIn hier bist - schreib in den Kommentar, was du ganz anders oder was du ähnlich siehst und tust wie ich. Oder ergänze, wenn dir etwas Wichtiges fehlt. Auch wenn du eine Frage hast oder etwas "hinterfragst" - lass es mich wissen!

Wie hat die Atemarbeit nach Ilse Middendorf deine Atem- und Lebensqualität verbessert? Kannst du mir dies anhand eines Beispiels aufzeigen.

 Ich habe in meinem Alltag Momente von Apnoe (unbewusstes Atemanhalten oder sehr flach atmen) gefunden, zB wenn ich in einen Zug einsteige, atme ich erst wieder voll, wenn ich mich auf einen Platz gesetzt habe. Da mir das bewusst geworden ist, kann ich mir nun bereits beim Einsteigen die Erlaubnis geben, einfach weiter zu atmen. Das entlastet. Diese Alltagsmomente, in denen der Atem stockt, sind einerseits individuell und andererseits universell, wie ich in letzter Zeit entdecke. So gibt es zB die Bildschirm-Apnoe, die all jene heimsucht, die sich vor ihren Compi in die virtuelle Welt wegtragen lassen. Da sehe ich meine Mission: Aufklären und verändern, zB mit regelmässigen Mikropausen, um bei Bildschirmarbeit wieder zur Körperempfindung zurückzukommen.

Mikropausen... Raum zum Atmen
Mikropausen... Raum zum Atmen

 

Als Instrumentalistin auf dem Alphorn und Chorsängerin bin ich heute viel mehr im Vertrauen und weniger im Krampf unterwegs: Ich habe erfahren, dass der Einatem "gratis" ist und mich nie im Stich lässt. Ich kenne viele Tricks, wie ich meinen Körper zur Hilfe motivieren kann, wenn ich merke, dass der Hals eng oder der Atem schwach wird.

 

Bei Anstrengung habe ich meinen Atem als Freund und Begleiter zur Verfügung: Solange ich durch die Nase einatme, stimmt die Belastung. Ich weiss, wie ich mein System regulieren kann, besonders in Richtung Ruhe und "Erholung". Sollte ich einmal Mühe haben mit Einschlafen, kenne ich wirksame Übungen oder kann zB Herzkohärenz praktizieren.

 

Ich bin insgesamt ausgeglichener, zufriedener und innerlich ruhiger geworden, davon profitiert nicht nur mein Umfeld, sondern das macht auch mich zufrieden. Durch das Schulen der Wahrnehmung ist die Welt bunter und reicher geworden. All die Qualitäten, die ich nun neu erlebe und auch beschreiben kann, bereichern mein Leben ungemein.

 

Heute erlaube ich mir komplett zu träumen und Träume im Alltag auch zu leben. Dabei unterstützt mich die Prozessarbeit nach Arnold Mindell (Prozessorientierte Psychologie). Körper, Seele und Geist können sich verbinden und ausdrücken dank der Arbeit mit dem Leib und den Träumen und bringen mich persönlich näher zu mir und meinen heissen Themen.

 

Ups, ich sollte EIN Beispiel erzählen - da ist nun meine Begeisterung mit dem Thema voll mit mir durchgegangen. Das ist auch ein erwähnter Kritikpunkt an der Methode in Meiers Studie: "Zu begeistert von der Atemtherapie, alles dreht sich um den Atem" (S. 77). Auf dieser Grundlage darf ich mir als Vollblut-Middendörferin bestimmt selbst auf die Schulter klopfen.

 

Ich sehe es als meine Aufgabe für die Zukunft, mit Missverständnissen auszuräumen und die Methode in ihrer Erfahrbarkeit trotzdem irgendwie erklärbar zu machen. Die Begeisterung ist für meine Vision "Wecke deinen Atemsinn" auf jeden Fall ein guter Boden. Der ist auch immens wichtig bei Middendorf, das habe ich ja auch noch gar nicht erwähnt...

Gibt es einen speziellen Tipp oder eine Empfehlung, die du den Lesenden aus deiner Atemerfahrung gerne mitgeben möchtest?

Entdecke deinen Atemsinn mit dem Atem Orakel
Entdecke deinen Atemsinn mit dem Atem Orakel

 

Ich glaube, jeder und jede muss zur eigenen Atemerfahrung kommen. Das ist die Chance.

 

Deshalb mein Tipp: Wende dich deinem Atem zu und beobachte, ohne ihn zu stören. Wecke deinen Atemsinn und schau, was das in deinem Leben bewirkt. 

 

Lass dir geeignete Atemübungen von einer ausgebildeten Atemtherapeutin zeigen, die dich in deinem Prozess begleiten kann. Gut ausgebildete Therapeutinnen und Therapeuten findet man beim EMR oder auf der Seite des AFS Atemfachverband Schweiz.

 

„Wer andere begleiten will, muss selbst kompetent sein.“, sagt Ruth Meyer, die Autorin von Lebenskompetenzen erweitern. Diesen Satz kann ich nicht vergessen. Deshalb: Schau genau, wem du deinen Prozess anvertraust - und wenn du dabei auf deinen Atem achtest, tust du das! Ehrlich gesagt, mir stehen nämlich oft die Haare zu Berge, wenn ich sehe, was im Namen des Atems und von Atemcoaches, Atemtrainern und Atemexperten alles propagiert wird. Auch wenn es sicher viele gute und professionelle Angebote gibt. 

 

Ich persönlich finde: Im Atem und in der persönlichen Auseinandersetzung damit steckt wohl das grösstmögliche Potenzial für den Menschen. Für das Bewahren der Gesundheit, die persönliche Entwicklung und die eigene Lebenszufriedenheit.

 

Eine Bürokollegin sagte einmal zu mir: „Susanne, im Leben geht es nicht immer um den Atem.“ - „Doch! Ohne Atem lebst du gar nicht mehr!“ So hat der Atem auf jeden Fall immer das letzte Wort, darauf kann ich vertrauen.

Von welcher Atemschule möchtest du in meiner Interview Reihe am liebsten als nächstes hören und warum?

Neben der Atemtherapie nach Middendorf sind bei der OdA Komplementärtherapie einige weitere Atemrichtungen anerkannt. Leider werden manche nicht einmal mehr ausgebildet und sind sozusagen vom Aussterben bedroht. Mich persönlich würde es sehr freuen, ein Interview mit jemandem zu lesen, der/die Atemtherapie nach Atemrichtung Organisch-Rhythmische Bewegungsbildung ORB (Medau) anbietet. Ich bin auch gespannt auf alle weiteren Interviews und finde es eine tolle Idee von dir, Eveline, diese Serie auf deinem Blog anzubieten!

Herzlichen Dank, liebe Susanne, für das interessante und sehr lehrreiche Interview mit dir! Das Wissen und die Bücher von Prof. Ilse Middendorf hat auch mich in meiner Atemausbildung am IKP begleitet und begeistert. In meinem Praxisalltag, insbesondere in meinen Atemkursen, hat vieles davon seinen festen Platz. Dank deinen Erklärungen und Ausführungen habe ich trotzdem noch das eine oder andere dazu lernen und vertiefen können. Ich wünsche dir weiterhin viel Freude und Erfolg auf deinem Atemweg!

 

 


Folge Susanne Wagner auf LinkedIn mit Zufalls-Mikropausen für Bildschirmgeplagte: https://ch.linkedin.com/in/atemhauswagner

Oder lies ihre Blogartikel und wecke deinen Atemsinn: https://atemsinn.ch/blog


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Kommentare: 1
  • #1

    Susanne Wagner Atemtherapie (Montag, 29 Januar 2024 11:51)

    Liebe Eveline
    Vielen Dank, dass ich über die Atemtherapie nach Middendorf und meine Erfahrungen und Ansichten auf deinem Blog reden darf! Ich bin gespannt auf die weiteren Interviews in deiner Reihe zu den Atemrichtungen und wünsche dir viele anregende Gespräche mit Atemtherapeutinnen und Atemtherapeuten. Der Austausch über das, was wir tun und wie wir es unterschiedliche erfahren ist so wichtig!
    Herzlich
    Susanne


Eveline Baumgartner Meier

Arbeits- und Organisationspsychologin FH

Atemtherapeutin IKP

Schriftpsychologin FH

Achtsamkeitslehrerin

PRAXIS Oberhus 3, 6023 Rothenburg

TELEFON 079 271 76 24

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